Am Anfang war das Feuilleton
Die Pandemie SARS-CoV-2 oder allgemein Corona hatte zu Beginn ihrer globalen Ausbreitung alle Nachrichtenmedien fest in ihrem Bann. Diese Beobachtung entspricht der Logik der klassischen News-Value-Theorien. Neben Diskussionsbeiträgen und Analysen über Fallzahlen, geografischen und wirtschaftlichen Entwicklungen sowie politischen Folgen zog auch der Feuilleton nach, in dem nach den Virolog*innen, Ökonom*innen und Politolog*innen auch Vertreter*innen der Humanities zu Wort kamen. Erste ad hoc Analysen zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen und Funktionssystemen folgten, wie bspw. zum Familismus in der Pandemie, Solidarität und gesellschaftlicher Teilhabe in der „Isolation“ oder demokratiepolitischen Entwicklungen (Stichwort Erstarken der Autokratie). Auch Vergleiche zu historischen Pandemien waren ein beliebtes Sujet in Tages- und Wochenzeitungen, die zugleich eine kleine publizistische Renaissance hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Anerkennung und ihrer Reichweite feierten (vgl. Kirfel 06.05.2020; DW 2020).
Das Interesse an soziologischen Wortmeldungen wurde größer und es folgten in Form von Interviews und Gastbeiträgen soziologische Betrachtungen von in den Medien bereits bekannten Denker*innen der deutschsprachigen Sozialwissenschaften wie bspw. Andreas Reckwitz in Der Tagesspiegel (05.04.2020) oder Rudolf Stichweh in der FAZ (07.04.2020). Zu lesen auch hier: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/die-maske-ist-eine-zumutung-na-klar-aber-es-geht-li.114293
Darüber hinaus starteten bereits im März erste Initiativen, um über die gesellschaftlichen Folgen von Corona zu forschen und zu schreiben als auch das Forschen in der „Corona-Gesellschaft“ selbst zu problematisieren und zu reflektieren: Hierbei ist auch die Blogreihe des Soziologiemagazins zu nennen, die sich – in feuilletonistischer Manier – mit dem Titel „Soziologische Impulse während COVID-19“ dem Thema annahm. Im Verlauf des Jahres 2020 folgten weitere soziologische Blogs dem Ziel sozialwissenschaftliches Wissen, basierend auf ersten Studien, möglichst verdichtet und knapp zu publizieren. Hier sind die beiden Blogs des Vienna Center für Electoral Research (Viecer) sowie der Sozblog der Universität Wien zu nennen, um nur zwei Beispiele hervorzuheben.
Dass daraufgefolgt, der Buchmarkt nicht lange auf sich warten ließ, war zu erwarten. Schon im August offenbart ein Blick in die neugeschaffene „Pandemie-Abteilung“ einer großen Bücherhandelskette die Schreibwut vieler Autor*innen. Das verlegerische Potential hinter der größten gegenwärtigen Herausforderung wurde – neben steigenden Geflüchtetenzahlen und der zunehmenden Erodierung demokratischer Realitäten – erkannt. Neben etablierten Expert*innen aus Ökonomie und Humanities, wie Hans-Werner Sinn mit seinem „Der Corona-Schock“ und Ivan Krastev mit „Ist heute schon morgen?“ ziehen zahlreiche Wissenschaftler*innen nach, die bisher weniger prominent am öffentlichen Diskurs partizipiert haben. Karina Reiss und Sucharit Bhakdi sind hier ein Negativ-Beispiel, die mit ihren teils obskuren und subjektiven „Analysen“ und Meinungen in „Corona Fehlalarm?“ z.T. die Bestseller-Listen der Republik anführten (vgl. Deutschlandfunkkultur 08.08.2020).
Zum Buch
Demgegenüber verkündete der Bielefelder transcript-Verlag bereits im Frühjahr 2020, dass sie einen Sammelband mit dem Titel „Die Corona-Gesellschaft“ konzipieren wollen, der Ende Juli 2020 unter der Herausgabe der beiden transcript-Lektor*innen Michael Volkmer und Karin Werner veröffentlicht wurde. Bereits in der Presseankündigung des über 400-seitigen Bandes wurde angekündigt, das „Who is who“- der deutschsprachigen Humanities für das Projekt zusammenzubringen. Und so ist es geschehen: Wie die beiden Herausgeber*innen einleitend betonen, handelt es sich nicht um ein gewöhnliches Buchprojekt; der Zeitrahmen für die Manuskripte war deutlich geringer, die Umstände der Artikelerstellung durch „Lockdown“, verstärkter Verlagerung des Sozialen in digitale Sphären anders als gewohnt. Einige Autor*innen sind vom Projekt abgesprungen, viele andere sind dazu gekommen. Das Resultat ist ein beeindruckender Band, der neben den beiden Herausgeber*innen 43 Autor*innen aus allen Bereichen der Humanities zusammenführt. In den dreizehn strukturgebenden Überkapiteln „Kritik der öffentlichen (Un-)Vernunft“, „Historische Einordnungen“, „Körper“, „Räume“, „Zeitlichkeiten“, „Solidaritäten“, „Gesellschaftsordnung“, „Staat und Demokratie“, „Protest, Widerstand und Gewalt“, „Internationale Politik“, „Ökonomien“, „Krisenbewältigung“ und „Konkrete Utopien“ wird ein breites Portfolio an Themen behandelt, welche offensichtlich, wie auch die Herausgeber*innen Volkmer und Werner betonen, multithematisch zugeordnet werden können (S. 13). Dabei gehen die jeweiligen Expert*innen auf ihre Forschungskontexte ein und thematisieren z.T. ihre laufenden empirischen Forschungsprojekte wie etwa der Regensburger Kulturwissenschaftler Lars Winterberg zu Ernährungskulturen (S. 331ff.), die Frankfurter Geschlechtersoziologin Sarah Speck zum Thema „Homeoffice“ aus einer geschlechtersoziologischen Perspektive heraus (S. 135ff.) oder die Soziolog*innen Hubert Knoblauch und Martina Löw (beide TU Berlin) zu ihren Spezialforschungsbereich „Refiguration von Räumen“ (in Zeiten der Pandemie) (S. 89ff.).
Diskussion
Die oftmals recht kurzen Essays, die als Impulse bzw. Diskussionsanregungen verstanden werden können, thematisieren Vieles, was ohnehin in Feuilleton-Beiträgen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurde. Gleichwohl bietet der Band auch einige Vertiefungen und erste empirische Forschungsbeiträge. So sind bspw. die beiden oben genannten Gastbeiträge in Tageszeitungen von Stichweh und Reckwitz in einer erweiterten Form ebenfalls in diesem Band zu finden. Andere Impulse, wie bspw. der des Marburger Soziologen Sven Opitz zu „Luftsicherheitszonen“, wurden bereits auf Wissenschaftsplattformen wie soziopolis oder Reckwitz Artikel auf dem Blog des Wissenschaftsszentrum Berlins (WZB) veröffentlicht. Wiederrum andere Beiträge, wie jener von Gesa Lindemann zum Staat, Individuum und der Familie, sind Auszüge aus geplanten Buchpublikation.
Damit stellt der Band eine interessante Aufsatzsammlung dar, die viele Aspekte einer zeitdiagnostischen Soziologie zur „Corona-Gesellschaft“ bündelt und damit ein erstes publizistisches Zeugnis einer ganzheitlichen Gesellschaftsdebatte innerhalb einer globalen Pandemie darstellt. Die Diagnose, dass es sich hierbei um eine Zäsur handelt, durchzieht den Band periodisch. Die jeweiligen mikro-, meso-, als auch makro-soziologischen Analysen und Theoretisierungen kommen dabei zu erstaunlich unterschiedlichen Überlegungen hinsichtlich langfristiger gesellschaftlicher Folgen: Gesa Lindemann (Oldenburg) resümiert, dass „eine grundsätzliche Änderung unserer gesellschaftlichen Ordnung […] nicht zu erwarten“ ist (S. 260). Ein ähnliches Fazit zieht Stichweh (S. 204). Ingolfur Blühdorn (WU Wien) hingegen betont, dass mit seiner Soziologie der Nicht-Nachhaltigkeit aufgezeigt werden kann, dass die derzeitig im Fokus stehende demokratiepolitischen Transformationsprozesse sich bereits vor der „Pandemie-Krise“ entfaltet und verfestigt hätten (S. 237). Die systemtheoretischen Überlegungen der Passauer Soziologin Anna Henkel zeigen, dass Corona ein Stresstest für das Zusammenspiel der Funktionssysteme ist, in dem bereits eine kurzzeitige Störung und darauf folgende Problemverschiebungen zu einer Erosion funktionaler Differenzierung und zur Auflösung gesellschaftlicher Umwelt führen kann (S. 213).
Der Band bietet daher nicht die eine Schlussfolgerung auf aktuelle gesellschaftliche Fragen zum Ist- und Soll-Zustand in der Pandemie, sondern vielmehr einen Abriss der besagten Impulsgeber zum Weiterdenken und Forschen. Der eher plakative Titel des Werkes sollte daher weniger als Agenda, als vielmehr als marketingtechnischer Aufriss verstanden werden. Denn anders als viele sozialwissenschaftliche Makroanalysen die unter Schlagworten wie „Angstgesellschaft“ o.Ä. die letzten Jahre zu Bestsellern avancierten, ist der Anspruch dieser Aufsatzsammlung, seiner Analysen und Schlussfolgerungen bescheidener und weniger totalitär. Das zeigt sich allein durch die disziplinäre und paradigmatische Bandbreite, die die Autor*innen vertreten – mensch möchte meinen, es ist für wirklich jede*n etwas in diesen Buch zu finden, die sich jenseits von plakativen und populären Meinungsmachen zum Thema belesen möchten. Es werden wie bereits oben angerissen, noch weitere Werke folgen, auch aus dem hier versammelten Autor*innenkreis. Nichtsdestotrotz bleibt diese Publikation die erste und bestechendste zur pandemischen Echtzeitforschung im Bereich der deutschsprachigen Sozialwissenschaften. Das mensch vielen Beiträgen den derzeitigen Stand der Pandemie-Entwicklung anmerkt, macht die Sammlung umso mehr zu einem zeithistorischen Nachschlagewerk.